Die Geschichte eines Close Calls, an dem natürlich niemand schuld war
Während eines Events, bei dem ca. 30 Segelflugzeuge mit 8 Schleppmaschinen binnen kürzester Zeit in die Luft gezogen wurden, ereignete sich, nachdem ich selbst ausgeklinkt hatte, ein “Near Miss” zwischen mir und einem noch im Schlepp befindlichen Gespann.
Schon im Schlepp versuche ich mir ein Bild über die Situation in der Umgebung des Ausklinkraumes zu machen: Ich sehe mehrere Segelflugzeuge ca. 2 km entfernt unter einer Wolke kreisen, sehe Segelflugzeuge in verschiedenste Richtungen vom Ausklinkpunkt weggleiten und sehe Schleppflugzeuge absteigen und die Höhe der Segelflugzeuge rasch verlassen. Es sind locker zehn Flugzeuge in ähnlicher Höhe auf wenigen Kilometern verteilt, jeder mit einer anderen Gesinnung.
Ich schärfe meine Sinne und weiß, dass “Obacht” angesagt ist. Der Plan: Zu der Wolke mit den kreisenden Flugzeugen fliegen, die offenbar gut steigen, und dem Gewirr schnell nach oben entkommen. Dann klinke ich aus und suche weiterhin nach Flugzeugen: Ich scanne nach dem einfachen und bewährten “Random”-Muster geradeaus, schräg vorwärts zu beiden Seiten, und gelegentlich auch genau zur Seite. Das Flarm gibt mir Tips, in welche Richtung ich jeweils besonders aufpassen sollte.
Es gibt aber auch noch andere Dinge zu tun: Fahrwerk einfahren, Frequenz umschalten, Trimmung neu setzen, auf die Wolken achten. Plötzlich höre ich ein Brummen und denke entsetzt: Verflucht, wo ist er?
Im gleichen Moment sehe ich, wie mich eine Schleppmaschine links überholt, im Abstand von etwa einer Spannweite. Direkt dahinter folgt ein Segelflugzeug, das in diesem Moment ausklinkt und ruckartig nach links von mir weg kurvt. Nachdem der Schreck überwunden ist, ärgere ich mich sehr über den Schleppzug, der mich nicht vor sich fliegen sah.
Im Funk höre ich eine Minute später, wie mich der Pilot des anderen Segelflugzeuges wütend anruft: “XY, das war aber Scheiße gerade!!”. Ich erwidere nichts, und wundere mich, weil ich ja den von hinten kommenden Schleppzug nicht sehen konnte, und ärgere mich darüber noch ein bisschen mehr. Dann reiße ich mich zusammen und habe einen sehr schönen Flug.
Nach dem Flug suche ich den anderen Segelflugpiloten und bespreche mit ihm die Situation. Seine Version: Er sei im Schlepp von rechts (!) gekommen und ich hätte das Gespann dabei schon lange im Voraus sehen müssen. Ihm selbst sei die Sicht durch das Schleppflugzeug versperrt gewesen. Aber der Schlepppilot selbst könne ja nicht so gut heraus schauen.
Ich verstehe die Welt nicht mehr, weil ich den “Gegner” ja erst wahrgenommen hatte, als er mich links (!) überholte (!), und weil ich keine Chance hatte, den Gegner vorher irgendwie zu sehen.
Wir werfen uns gegenseitig vor, den anderen nicht gesehen zu haben und selbst keine Chance gehabt zu haben, den anderen zu sehen. Wie das erklärbar ist, zeigt erst die GPS-Aufzeichnung der Situation: Dass wir beide irgendwie Recht bzw. Schuld haben und dass der Fehler meinerseits schon eine Minute vor dem Vorfall passiert und damit das Schicksal besiegelt war.
In dieser Position, eine Minute vor dem Near Miss, kann ich den Schleppzug einen Kilometer rechts unter mir sehen, offenbar parallel zu meiner Flugbahn. Ich nehme ihn wahr, finde ihn aber völlig unwichtig und beschäftige mich weiter mit anderen Flugzeugen.
25 Sekunden vor dem Near Miss haben wir annähernd die gleiche Höhe erreicht. Die Entfernung wird langsam kritisch. Warum ich den Schleppzug in dieser Situation nicht wahrgenommen habe, weiß ich nicht.
Wenige Sekunden später habe ich keine Chance mehr, den Schleppzug zu sehen, weil er hinter meinem rechten Flügel verschwunden ist. Diese Chancenlosigkeit meinerseits ist die Folge der zwei vorher gemachten Fehler: In Bild 1 falsch beurteilt und sofort wieder “vergessen”, und in Bild 2 einfach nicht wahrgenommen.
Der Abstand des Schleppflugzeuges zu meinem linken Flügel muss noch deutlich geringer gewesen sein. Bis zur Fluganalyse am Boden ist mir nicht klar, dass der Schleppzug, den ich eine Minute vorher kurz wahrgenommen hatte, der selbe ist wie der, der mich danach fast von hinten gerammt hätte.
Warum das Flarm uns beide nicht gewarnt hat, wissen wir nicht sicher. Ich selber glaube, dass der Vorfall deshalb so gefährlich wurde, weil er so langsam und „schleichend“ entstanden ist und auch deswegen das Flarm in keiner Situation eine akute Gefahr spüren konnte.
Gedanke: Mithilfe z.B. eines Butterfly Displays hätte ich die Situation wahrscheinlich frühzeitig erkennen und entschärfen können, da ich somit 30 Sekunden Zeit gehabt hätte, um vom hinter mir fliegenden Schleppzug Kenntnis zu erlangen und den sich verkleinernden Abstand zu beobachten sowie den Verlauf unseres unglücklichen „Seitenwechsels“.
Drei Dinge, die mir nicht klar waren:
- Auch wenn wir in verkehrsreichen Situationen gut aufpassen, sind wir generell gefährdet.
- Parallel fliegende Flugzeuge (auch weiter entfernt) erscheinen zwar eher unwichtig, sind aber fast genauso relevant wie die Flugzeuge voraus.
- Bei der Luftraumbeobachtung sollte der Schwerpunkt des Scannens natürlich vorne und schräg vorne liegen, die Seiten dürfen aber auf keinen Fall zu kurz kommen.